Nach Zugspitz-Ultratrail und TDS im letztem Jahr, musste für dieses Jahr ein neues Rennen her. Da ich noch nie in den Dolomiten gewesen bin, klang der Lavaredo Ultratrail mit seinen 119 km und 5.800 HM reizvoll. Mit den nötigen Qualifikationspunkten und ein wenig Glück bei der Auslosung standen mein Lauffreund Fred und ich Ende Oktober des letzten Jahres bereits auf der Teilnehmerliste und wussten wofür wir trainieren mussten.
Mehr als ein halbes Jahr später saßen wir nun aufgeregt und voller Vorfreude im Auto, auf dem Weg zum Start- und Zielort Cortina d’Ampezzo. Da es 850 km zu überbrücken galt, waren wir bereits Donnerstags angereist, um uns von der Anreise noch erholen zu können. Gegen 16 Uhr waren wir schließlich im Hotel und sind bei bestem Wetter zum Abholen der Startunterlagen in die Eissporthalle des Ortes geschlendert. Nach inspizieren des Startbereichs und der zahlreichen Bergsportgeschäfte, gab es leckere Pizza mit Salat im „5 torri“, einer – zu Recht – immer vollen Pizzeria in der Innenstadt Cortinas.
Den nächsten Tag verbrachten wir mit Sightseeing am Misurina See, abhängen im Hotelgarten und nochmaligem Essen in oben genannter Pizzeria. Schwierig einen ganzen Tag totzuschlagen, ohne großartig etwas zu machen. Warum der Start auf 23:00 Uhr gelegt wurde, ist mir auch immer noch nicht wirklich klar. Um 19:00 Uhr waren wir dann zur Pasta-Party, um uns ein letztes Mal zu stärken. Anschließend sind wir wieder zurück zum Hotel, um noch ein wenig zu ruhen, uns anzuziehen und die Ausrüstung endgültig fertigzustellen. Ein letztes Mal habe ich meine neu programmierte Tracking-App geprüft und die Datenbank geleert. Heute sollte es den ersten Dauertest geben.
Kurz vor 22 Uhr ging es dann endlich Richtung Start. Dort auch wieder ewiges Warten. Statt Musik gab es italienische Dauermoderation, die für Nicht-Italiener ziemlich nichtssagend und nervig war. Kurz vor elf dann Gänsehausmusik von Enio Morricone und um 23 Uhr dann endlich der langersehnte Start. Ich habe selten eine so geniale Startatmosphäre erlebt. Das Anfeuern der vielen, vielen Zuschauer, die Läufer aufgeladen mit der Anspannung eines ganzen Tages, hier und da das Licht bereits angeschalteter Stirnlampen: Gänsehaut pur!
Start!
Nach einem kurzen Stück Straße liefen wir mit ordentlicher Geschwindigkeit aus dem Ort hinaus, die Herzfrequenz langsam aber sicher in den orangefarbenen Bereich ansteigend. Nach einem Wechsel der Talseite folgte dann der erste 500 HM lange Anstieg (hier ging ich mein eigenes Tempo alleine weiter) bei dem rasch alle Läufer in den Gehmodus schalteten, da die Steigung einfach zu steil war, und laufen unökonomisch gewesen wäre. In den Serpentinen konnte man gut die hinter einem liegenden Läufer bzw. in erster Linie deren Stirnlampen sehen. Ein tolles Bild. Im Gegensatz zum Zugspitz-Ultratrail waren hier kaum Läufer mit Funzeln am Start, sondern hatten vernünftige Beleuchtung an Bord. Sicher darauf zurückzuführen, dass beim LUT ein paar Qualipunkte erforderlich sind und somit auch schon Erfahrungen im Ultratrail vorliegen müssen – und da gehört eine gescheite Lampe einfach zur Ausrüstung.
Ich war mittlerweile gut in Fahrt gekommen. Die Herzfrequenz hatte sich im oberen GA1-Bereich eingependelt und ich fühlte mich gut. Der erste Berg war schnell erledigt und es folgte eine geniale bergab-Passage, die uns über 400 Höhenmeter weit wieder hinab ins Tal führte. Meine Beine fühlten sich gut an. Ich wurde zwar von ein paar flinken Berggazellen überholt, konnte aber auch selber ein paar Plätze gut machen. Das Feld hatte sich nach rund 10 km schon erstaunlich auseinandergezogen und immer wieder war ich bereits alleine im Wald unterwegs. Das Rauschen eines Bachs kündigte schließlich die Talsohle an. Hier folgten mehrere Punkte, an denen Zuschauerherden im gefühlten Nirgendwo tierisch Party machten – bärenstark. Über einen Forstweg folgten wir dem Lauf des Flusses, bis schließlich bei ca. 17 km der erste Verpflegungspunkt erreicht war. Schnell wurden Flaschen und Trinkblase wieder vollgemacht, ein Stück Kuchen abgegriffen und keine fünf Minuten später war ich wieder „on the road“.
Es folgte ein längerer Anstieg, der mich durch das Val Padeon am Rifiguio Son Forica erstmals auf knapp 2.100 Meter Höhe bringen sollte. Je höher ich kam, desto stärker wurde meine Schnappatmung. Die Höhe machte mir heute ganz schön zu schaffen. Irgendwann passierte ich einen Sessellift, dessen Kabinen im Schein meiner Lampe auftauchten und kurz darauf war die höchste Stelle erreicht. Auch hier war der Aufstieg und auch der Beginn des folgenden Abstiegs von Forstwegen geprägt. Gut, dass es dunkel war, ansonsten hätte ich sicher wieder Allergie von den Skipisten bekommen… Nach knapp 300 Höhenmetern Abstieg wurde die Straße Richtung „drei Zinnen“ gekreuzt – auch hier war wieder Party angesagt und mit „Bravi Sebastian, forca, forca“ wurde ich wieder in die Dunkelheit entlassen. Nach der Querung einer Wiese folgte eine Flachstück. Vor mir war niemand zu sehen, hinter mir niemand zu hören und mit flottem Schritt kam ich voran.
Sturz…
Aufgrund der eigentlichen Einfachheit des aktuellen Streckenabschnitts war ich anscheinend nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit unterwegs, denn auf einmal zog es mir die Füße weg. Während ich mich im Training beim Stolpern oft fangen kann, hatte ich hier keine Chance. Der Länge nach klatschte ich auf Knie, Brustkorb und Arme und blieb einen Moment benommen liegen. Fluchend rappelte ich mich hoch und betrachtete das Malheur. Beide Knie blutig, Ellbogen aufgeschlagen, stechende Hände, Oberschenkel und Schmerzen links oberhalb vom Brustbein. Mit letzterem war ich entweder auf einen Stein oder auf die Griffe von meinen Stöcken gefallen. Immerhin waren meine Stöcke, und der vorne gelagerte Akku und die Wassertrinkflasche intakt geblieben.
So eine Oberschei…. Knapp 30 km vorbei, ich und ich nutze meine vordere Knautschzone und haue mir die halbe Frontpartie zu Brei. Ich schüttelte alles einmal durch, immerhin konnte ich alles bewegen. Also schnell wieder in den Laufschritt, damit Adrenalin und Durchblutung den Schmerz unterdrücken konnten. Die Knie sahen doppelt so dick aus wie vorher und speziell im rechten Knie hemmte ein leichtes Stechen ein flüssiges Bergablaufen. Ich war froh als ich den nächsten Abstieg auf schönen Pfaden bis nach Federavecchia hinter mich gebracht hatte und dort an der nächsten Verpflegung ankam. Ich setzte mich kurz auf eine Bank, holte mein Handy raus und schrieb einen Kommentar über meine neue Tracking-App, das ich mich derbe niedergelegt hatte. Wenigstens das Tracking funktionierte und hatte schon einige Punkte abgesetzt. Nach Stärkung mit etwas Kuchen und Getränken machte ich mich schnell wieder auf den Weg.
Abwechselnd auf Forstautobahnen, Pfaden und Straßen war ich im Anstieg zum Misurina See. Ab dem höchsten Punkt des ersten Teilanstiegs führte ein genialer Trampelpfad durch den dichten Fichten- und Lärchenwald. Hier musste höllisch aufgepasst werden, um nicht wieder einen Diver in die angrenzende Böschung zu riskieren. Darauf hatte ich gar keine Lust mehr. Nach mehreren Kilometern permanenten links, rechts, rauf und runter kam ich schließlich am Ufer des Misurina-Sees an. Der Pfad hatte ganz schön Körner gekostet und ich musste am flachen Seeufer ein paar Schritte gehen, um ein Gel mit Wasser in Ruhe runterzuspülen. Immerhin war hier ungefähr Marathon-Distanz, da war eine kurze Verschnaufpause angemessen. Ich lag noch ziemlich passend in meiner berechneten Zeit für die geplanten 20 bis 21 Stunden.
Das lockere Joggen am Seeufer endete an der Straße, die vom Misurina See zur Mautstelle der „drei Zinnen“ hinaufführt. Dieser Straße folgte auch unser Weg, zweigte dann aber zum Glück rechts ins Gelände ab. Immer steiler werdend erklomm ich Meter um Meter und spürte wieder zusehends die Höhe, die mir heute erstaunlicherweise mehr zusetzte als letztes Jahr. Nachdem ich die Straße ein weiteres Mal gekreuzt hatte, war das Rifugio Auronzo schon in Sichtweite, unsere Verpflegungsstelle, auf der Südseite der „drei Zinnen“, die auch „Tri cime di Lavaredo“ heißen – daher der Name des Laufs. Hier oben pfiff ein fieser Wind, der mein Langarmshirt locker durchpfiff und meiner Hautoberfläche ordentlich Abkühlung brachte. Ich war daher froh meinen Drop-Bag in Empfang zu nehmen und im Umkleidezelt geschützt zu sitzen. Da ich ziemlich ausgekühlt war, zog ich mein Langarmshirt aus und tauschte dieses gegen T-Shirt und wasser- und winddichte Regenjacke. Auch die Schuhe mussten von den hineingekommenen Steinchen und Lärchennadeln befreit werden. Anschließend ging ich zur Stärkung ins warme Rifugio. Hier gab es erstmals leckere Suppe und heißen Tee. Nach dem kühlen Wind draußen war das eine echte Wohltat. Nachdem ich mich etwas vom Aufstieg erholt und aufgewärmt hatte, machte ich mich auf den spektakulärsten Teil der Strecke, herum um die drei Zinnen.
Gemeinsam mit einem netten dänischen Mitstreiter, der schon Marathon des Sables, Atacama Crossing und ähnlich verrückte Sachen mitgemacht hatte, lief es sich locker um die Zinnen herum und wir kamen schließlich auf die spektakuär und prägnant aussehende Nordseite. Unglaublich toll und unglaublich groß, sind diese Felssäulen. Alleine um sie zu sehen, lohnt sich eine Reise in die Sextener Dolomiten. Ich schoss zwischendurch immer ein paar Fotos, und im folgenden Bergabstück ließen wir uns im Laufschritt von einem Kameramann vor den drei Zinnen ablichten. Ich konnte gerade noch hören wie der Kameramann mir zurief „Hey, your bottle!“ und schon sah ich wie sich meine Trinkflasche aus dem vorderen Rucksackfach der Gravitation hingab und mit einem geschmeidigen „Klatsch!“ neben mir aufkam. Dank weicher Softflasche war zwar nichts passiert, mir ging aber ein Licht auf, dass mein Rucksack beim Sturz wohl etwas gelitten hatte und ein Kompressionsgummi kaputt war, mit dem zuvor die Flasche fixiert gewesen war. In der Folge, also noch knapp 70 km, war ich immer wieder damit beschäftigt, die doofe Flasche gescheit im Rucksack zu fixieren… Was nervig.
Erste Probleme…
Durch das im oberen Teil technisch anspruchsvolle Val de la Rienza, ging es dann 1.000 Höhenmeter hinunter. Mein Knie machte es mir zwischendurch immer wieder unmöglich zu laufen, da die Prellung vom Sturz zu unangenehm war. Somit musste ich bergab immer ein paar Meter gehen, dann wieder in den Laufschritt wechseln. Was eine Sch…. Bergab zu gehen kostet unendlich viel Zeit und ich hatte noch gut die Hälfte der Strecke vor mir. Unten im Tal galt es an einer Art Furt den Rienza zu queren. Manche Läufer suchten verzweifelt nach einem trockenen Übergang, ich bin einfach durch. Das KALTE Wasser war eine Wohltat für die langsam strapazierten Füße. Das Wasser würde nach wenigen Metern schon aus den Schuhen rausfließen. Nach einigen Kilometern längs einen See folgte der Tiefpunkt der gesamten Strecke. Ein zäher Anstieg über einen Forstweg zur nächsten Verpflegungsstelle in Cimabanche. Für mich zu steil um jetzt noch durchzulaufen, aber zu lang, um zu gehen. Also immer im Wechsel: Laufen, gehen, laufen, gehen. Hier hatte ich eine nette Unterhaltung mit einem Amerikaner, der mit seiner Frau aus Katar angereist war und mit den vergleichsweise kalten Temperaturen aktuell seine Probleme hatte. Gemeinsam kamen wir schließlich am Verpflegungspunkt an. Aufgrund meiner schlechten bergab-Leistung rechnete ich damit, dass Fred mich allmählich einholen müsste. Während ich Suppe und Tee schlürfte, hielt ich folglich Ausschau und tippte einen Kommentar in meine Tracking-App. Aus „1.000 Höhenmeter haben mir den Rest gegeben“ wurde dank Autokorrektur „1.000 Höhenmeter haben Norden Rest gegeben“. Meine Leser haben wahrscheinlich gedacht, bei mir sei es jetzt schon soweit… 🙂
Fred kam nicht und ich machte mich auf den Weg. Auf einem Fahrradweg – parallel zur Straße von Toblach nach Cortina – lief ich zum Einstieg in den nächsten Aufstieg. Mit einem Österreicher ging ich den nächsten 500 HM Anstieg zum Pass Lerosa hinauf. Wieder einmal über einen Forstweg. Wir waren uns einig, dass der Anteil an Forstwegen langsam nervte, auch wenn die Landschaft absolut grandios ist. Oben angekommen, musste ich abreißen lassen, da ich nicht mehr durchgängig bergab laufen konnte. Nach 300 HM Abstieg war allerdings relativ schnell die nächste Verpflegung erreicht. Hier galt es richtig gut zu verpflegen, da für 18 km keine weitere Verpflegungsstelle kommen sollte. Im Gebirge ist das eine ordentliche Strecke. Fred war noch nicht aufgetaucht und so schaute ich beim Schlürfen meiner Suppe in der Zwischenzeittabelle nach. Hmm. Kein Fred zu finden. Mich konnte ich finden. Kurze Nachricht an meine Frau: „Schau du mal nach. Ich habe zu wenig Sauerstoff im Gehirn.“ Aber auch sie konnte Fred nicht finden. Das war mit komisch. Nicht, dass er auch gestürzt war. Ich schrieb also eine Kurznachricht an Fred und machte mich auf den Weg.
Hitze…
Parallel zu einem Bach ging es über sehr unwegsames Gelände abwärts und es fing plötzlich an zu tröpfeln. Nerv. Zumindest Kamera und Handy musste ich wasserdicht verpacken. Also wieder anhalten, alles einbeuteln und weiter konnte es gehen. Irgendwann war die Talsohle erreicht und über Forstwege lief ich weiter zu anderen Talseite hinüber. Das Tröpfeln hatte aufgehört und die Sonne brannte erbarmungslos. Ich war nun im Anstieg zum Val Travenanzes, dem letzten ganz langen Anstieg über knapp 1.000 HM. Immerhin aber auch noch 40 km bis zum Ziel, also 1/3 der Strecke. Im Anfang des Anstiegs führte eine Brücke über eine imposante Schlucht, in der weit unter mir das Wasser tobte und brauste. Für ein paar Fotos hatte ich Zeit, riss mich dann aber für den Aufstieg wieder los. Ein imposantes Tal mit steilen Felswänden, Wasserfällen und dem unten tosenden Fluss folgte. Es wurde immer wärmer und ich immer langsamer. Irgendwann machte das Tal einen Knick nach links und die Steigung wurde flacher. Was war hier los? Wir waren erst auf 1.800 Meter Höhe und ein weiterer Anstieg war direkt nicht in Sicht. Vor mir lag ein kilometerlanges Flussbett mit lauter Flusskieseln. Unwegsam und meinem Gemüt nicht gerade zuträglich. Schließlich fragte ich einen Italiener, ob das aufgrund der drohenden Gewittergefahr eine Alternativstrecke sei? Nein, Originalroute. Nächste Wasserstelle dorthinten! Dorthinten war der Anstieg zum Pass. In etwa 3 km Entfernung. Sehr ernüchternd. Mühsam schleppte ich mich durch die Flusskiesel. Jeder Schritt tat weh, da meine Füße mittlerweile riesige Blasen unten zu haben schienen. An einem aus dem Fels kommenden Bach nutzte ich meinen Klappbecher, um frisches Wasser zu trinken und meine Mütze nass zu machen. Am Rand lagen jetzt hin und wieder Teilnehmer im Schatten niedriger Büsche. Fertig. Kraftlos. Ich fragte jeweils, ob soweit alles gut sei. Zurück kam meist: „More or less, I just need a break.“ Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich an der Wasserstelle an. Hier konnte man Wasser aus einer Tränke nachfüllen und es standen ein paar Bänke zur Rast parat. Einige Teilnehmer saßen auf den Bänken, andere lagen verstreut auf der Wiese. Einer der Streckenposten sagte mit, dass das Tal auch Death Valley genannt würde. Glaube ich sofort, da sich Hitze dort enorm stauen kann.
Hier habe ich zum ersten Mal über eine mögliche Aufgabe nachgedacht. Die schwüle Hitze hatte mir dermaßen zugesetzt, dass mir zwischenzeitlich leicht duselig war. Zwei Gels und einige Becher Wasser später, ging es mir aber wieder eine Ecke besser. Hier aufgeben wäre eh nicht möglich gewesen – außer mit Helikopterrettung – und sooooo schlecht war ich ja nicht dran. Also weiter den Berg hinauf. Die Berge sind hier Kriegsschauplatz im ersten Weltkrieg gewesen und an jeder Ecke zeugen Relikte davon; alte Schützengräben, Fenster in ausgehöhlten Findlingen oder auch von Menschenhand geschaffene Löcher mitten im Felsmassiv. Trotz Ablenkung zieht sich der Anstieg wie Kaugummi und ich bin froh als ich endlich den höchsten Punkt erreiche.
Auf der anderen Seite machte ich mich auf den Abstieg ins Tal, immer wieder wechselnd zwischen gehen und laufen, da mich meine Fußsohlen mittlerweile tierisch schmerzten: Warum bildeten sich da Blasen, obwohl keine Fremdkörper im Schuh waren?! Die Spaßvögel vom Veranstalter hatten die nächste Verpflegung zu allem Überfluss falsch eingezeichnet. Laut Höhenprofil sollte diese am Ende eines Anstiegs sein, tatsächlich lag sie aber am Ende des danach folgenden Abstiegs. Sicher nochmal 1,5 bis 2 km weiter entfernt als eh schon gedacht. Aargh. Unten angekommen freute ich mich über Suppe, reichlich Kuchen und ein paar Becher warmen Tee. Ich saß zum Glück unter einem Party-Zelt, denn plötzlich setzte heftiger Regen ein. Kurzer Blick aufs Handy: Oh nein, Fred war von Montezumas Rache eingeholt worden und schon nach knapp drei Stunden mit Bauchschmerzen und deren Folgeerscheinungen aus dem Rennen ausgeschieden. Im wahrsten Sinne des Wortes: Schöne Schei…. Im Regenradar sah ich, dass es noch maximal 1 1/2 Stunden ordentlich regnen würde.
Gewitter…
Ich zog meine Regenjacke an, verpackte meine Kamera und mein Handy wasserfest und machte mich – am Oberkörper wasserdicht verpackt – auf den Weg. Mein Shirt und die Jacke von innen waren allerdings eh klamm. Als ich im Beginn der Aufstiegs steckte, donnerte es plötzlich mächtig. Bewahrheiteten sich die angekündigten Gewitter also doch noch – nach der schwüle im Hochtal auch kein Wunder. Ich war noch weit unten und das Gewitter steckte aktuell dort, wo ich hinauf musste. Aufgrund des Regenradars entscheid ich aber für mich, dass das Gewitter weitergezogen sein muss, wenn ich weiter oben im Berg sein werde und stapfte weiter hinauf. Wind und Regen nahmen zu, es kühlte sich ab, was ich als sehr angenehm empfand. Mit deutlich mehr Kraft und frischerem Willen schob ich mich den Berg hinauf, konnte sogar auch mal wieder überholen und wurde deutlich seltener überholt als zuvor im Hochtal. Der Regen kam zwar nicht durch meine Jacke, aber das eng anliegende Material ließ die Kälte von außen hinein. Mit jedem Meter Aufstieg wurde es mir kälter – an das Anziehen zusätzlicher Kleidung wollte ich bei dem Wind und Regen aber nicht denken. Durch bizarre Felsen in der Nähe der Cinque Torri – einem weiteren markanten Bergmassiv – führte der Weg unter Liftanlagen den Berg hinauf. Das Gewitter zog langsam ab und ich kam schließlich am höchsten Punkt dieses letzten langen Aufstiegs an, dem Rifugio Averau.
Hier war es mir plötzlich eiskalt und meine Händen wurden taub. Schnell lief ich die ersten Meter auf der windabgewandten Seite des Passes hinab. Der Versuch meine Handschuhe aus dem Rucksack zu holen scheiterte, da meine Hände bereits taub waren und ich den Rucksack nicht mehr vom Rücken bekam. Einer der nachfolgenden Läufer half mir schließlich und ich konnte mit Mühe die Handschuhe über meine klammen Hände ziehen. Mir war immer noch saukalt, ich machte mich aber schnell an den Abstieg, um meinen Körper aufzuheizen. In eine Gehpassage hörte ich ein seltsames Geräusch und ein paar Spanier kamen in Sicht, die ihre Rettungsdecke wie Bremsfallschirme um sich gewickelt hatten. Ob das Wärme speichern würde?! Gemeinsam mit den beiden vergoldeten machte ich mich in den technisch anspruchsvollen Trail hinüber zum Pass Giau. Der vorletzten Verpflegung. Endlich. Ein polnische Teilnehmer fragte mich kurz vor dem Rifugio, ob ich ein Foto von ihm machen könne. Aber sicher, dafür muss einfach Zeit sein.
Bei der Hütte angekommen, war mittlerweile die Sonne wieder rausgekommen und die Strahlen spendeten ein wenig Wärme. Mir war es aber trotzdem zu kalt und ich war froh, dass ich noch ein trockenes Langarmshirt im Rucksack hatte. Schnell zog ich mich um und genoss eine weitere Suppe und weiteren Tee. Heute mein Lieblingsessen und Lieblingsgetränk. Mit einem Stück Kuchen in der Hand verließ ich dann schnell die Verpflegung, um mich auf die finalen Kilometer zu machen – „nur“ noch ein knapper Halbmarathon. Nach wenigen Kilometern folgte eine durch die Bergwacht beaufsichtigte Passage, da absturzgefährdet und entsprechende Wachsamkeit angebracht war. Ich kraxelte so flott es ging darüber, musste aber echt aufpassen, da durch den Gewitterschauer alles schlammig und rutschig geworden war. Nach ein paar hundert Metern auf und ab erklomm der Pfad den vorletzten Berg. Wer hatte den denn ausgesucht? Links wäre es Richtung Cortina gegangen und wir mussten rechts nochmal 300 HM hinauf. Jetzt ging es echt an die Substanz, trotz vorheriger Pausen und zwischenzeitlichen Essens war ich echt leer. Warum macht man so etwas? Ich wollte nicht mehr. Oben angekommen ging es durch ein schönes Tal hinab und hinab und hinab. Ich war mittlerweile wieder mit Caroline unterwegs, einer Britin, die mich mal einholte und überholte und ich dann wieder sie einholte und überholte. Sie wäre wegen Auskühlens durch das Gewitter fast aus dem Rennen ausgestiegen, jetzt aber auch entschlossen, in Cortina anzukommen. Gemeinsam liefen und gingen wir das Tal hinab, bis ich im letzten Anstieg abreißen lassen musste.
Nachdem dieser gemeistert war, musste die Flanke eines letzten Bergs hinunter zum Verpflegungspunkt gequert werden. Es wurde mittlerweile wieder dunkel, was ich überhaupt nicht eingeplant hatte. Ich hatte nur meine funzelige, leichtere Ersatzstirnlampe im Rucksack und musste diese zu allem Überfluss in der Dämmerung erst mit Batterien bestücken. In dem gerölligen Gelände war an laufen nicht zu denken, da meine Füße bei jedem Schritt schrien: Sebastian, hör endlich auf. Trotzdem erreichte ich schnellen Schrittes bald die Verpflegungsstation. Hunger hatte ich noch nicht wieder, sondern leibte mir nur schnell einen Tee ein. Schnell auf in den letzten Kampf.
Schlammschlacht und Ziel…
Was folgte, war ein hammerharter Abstieg über mehr als 750 Höhenmeter. Steil, voll mit Wurzeln und Steinen und zu allem Überfluss mit Schlamm. Großer Spaß zu Beginn des Rennens, jetzt aber einfach nur ein Krampf. Erstaunlicherweise konnte ich in diesem Terrain aber wieder ganz gut laufen, da der weiche Untergrund unter den Füßen nicht so schmerzte. Ich konnte den ein oder anderen Teilnehmer wieder ein- und auch überholen, so auch Caroline, die ohne Stöcke im Matsch massive Probleme hatte. Ein Spanier hatte sich beim Sturz an der Schulter verletzt und seine Freunde holten die Bergrettung; zwei weitere Teilnehmer waren auf ihre Carbon-Stöcke gefallen und hatten diese zerdeppert. Nach einer gefühlten Ewigkeit spuckte mich der Pfad auf eine Forststraße, die nicht enden wollend nach Cortina führte. Irgendwann kamen endlich die ersten Häuser in Sicht und ich schloss zu einer Ungarin auf. Sie war auch völlig fertig und froh, dass es gleich vorbei sei. Nach über 25 Stunden und 9 Minuten konnte ich schließlich endlich die Ziellinie überqueren. Finished. Done. Erledigt. Und hungrig. In der Eissporthalle habe ich schnell noch ein paar Nudeln gefuttert, mir Freds Misere angehört und selbst ein wenig von meinen Eindrücken berichtet. Anschließend sind wir den letzten Kilometer zurück zum Hotel gegangen. Ich wäre im gehen fast eingeschlafen.
Regeneration…
Am nächsten Tag sah ich aus wie ein großes Hämatom mit Blasen anstatt Füßen. Schürfwunden an Knien, Ellbogen und Elle. Blaue Flecken an Knien, Oberschenkel, Beckenknochen und oberhalb vom Brustbein. Aufgescheuerter Rücken im Lendenbereich vom Rucksack. Und riesige Blasen unter den Füßen. So gebeutelt hat es mich noch nie. Rückblickend am Schlimmsten waren die Blasen an den Füßen. Ich vermute als Ursache von Hand gewaschene Socken, da unser Waschmaschine defekt war. Als ungelernter Wäscher habe ich bestimmt zu viel Lauge in den Socken gelassen, die beim Wettkampf meine Füße total aufgeweicht hat.
Fred war aufgrund seines verdauungssystembedingten Ausstiegs immer noch niedergeschlagen und frustriert. Mehr als ärgerlich, wenn man bedenkt, dass mehr als ein halbes Jahr intensiven Trainings in einem solchen Rennen stecken. Umso schöner war dafür unser Regenerationstag, bei dem wir (mit der Seilbahn!) in die Sauna am 2.800 Meter hoch gelegenen Rifuguio Lagazoi gefahren sind. Großartig und absolut empfehlenswert.
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Meine neue Lauf-App hatte hervorragende Dienste geleistet. Meine Handy-Ladung hätte locker für 24 Stunden inklusive Tracking gereicht, ich hatte aber vorsichtshalber eine Mini-Power-Bank angeschlossen. Familie und Freunde konnten mich hervorragend verfolgen!
Funktionscheck…
– Muskelkater: Stufe 6 von 10
– Blasen an den Füßen: Stufe 9 von 10
– Blaue Flecken und Schürfwunden: Stufe 6 von 10
– fast kein Wolf, dank ordentlich Vaseline
– keine blauen Zehen
– starke Müdigkeit, auch ein paar Tage später
15.450 kcal verbraucht und damit deutlich unter TDS geblieben, was auch nicht verwundert, da dort das Tempo höher und die Höhenmeter deutlich mehr waren. Trotzdem schon ziemlich ordentlich. Da kann ich wieder ein paar Pizzen mehr essen…
80 km Trailrun, 40 km wandern. Völlig unbefriedigend. Platz 466 von 661 Männern und 741 Finishern. Gestartet waren 1.200 Teilnehmer von 1.300 Angemeldeten. Meine schlechteste Platzierung jeher, eigentlich lande ich mindestens in der vorderen Hälfte oder noch eher im ersten Drittel.
Aber immerhin habe ich die schöne Landschaft komplett gesehen. 20 bis 21 Stunden halte ich unter normalen Umständen immer noch für realistisch. Der Sturz war Pech, vermutlich war ich einfach mal dran. Mit den Blasen an den Füßen war es mehr als ärgerlich, ich denke aber, dass tatsächlich die oben genannten Waschmittelrückstände in den Socken Ursache dafür waren. Dann noch etwas Pech mit dem Wetter, da ich zu spät im Hochtal ankam und Hitze nicht abkann. Zusätzlich noch ein Umschwung mit Gewitter, so dass mich Klamottenwechsel und auskühlen nochmal Zeit gekostet haben.
Speziell der Wetterwechsel hat mich allerdings gelehrt, dass die Diskussion um Pflichtausrüstung lächerlich ist. Leute: Nehmt lieber einen Gegenstand mehr im Rucksack mit als einen zu wenig. Innerhalb weniger Minuten ist man völlig ausgekühlt, auch wenn es einem kurz vorher durch die Bewegung noch richtig warm war.
Ob ich nochmal beim Lavaredo Ultratrail starte? Voraussichtlich eher nicht. Zwar verläuft die Strecke durch den für mich bislang schönsten Teil der Alpen, den ich kenne, allerdings ist der Forstweganteil viel zu hoch. Jeder zweite Anstieg führt kilometerweit über selbige. Das ist nicht meins, da fahre ich lieber nach Frankreich und bekomme mehr Trail für gleiches Geld.
Warum Ultratrail…
Meine Frau musste sich bei einer Feier – während ich lief – der Frage stellen: „Warum macht dein Mann so etwas?“. Die Antworten kann wohl nur ich selbst geben:
- Aus Liebe zu den Bergen: Berge lassen sich nie intensiver erleben als beim Sport.
- Aus Abenteuerlust: Ultratrails sind kleine Ausbrüche aus dem Alltag, ein Hauch konzentrierten Abenteuers.
- Um den internationalen „Geist“ der Veranstaltungen zu genießen: Hunderte oder tausende Menschen treffen sich, um ihr gemeinsames Hobby auszuüben. Es ist eine durchweg positive Grundstimmung vorhanden, und Unterhaltungen mit Teilnehmern jeglicher Herkunft sind fruchtbar und bereichernd! Anders als bei Stadtläufen gibt es ein viel stärkeres Mit- als ein Gegeneinander.
- Um Grenzen auszuloten: Zu was ist der menschliche Körper – und speziell mein Körper – in der Lage? Welcher Schreibtischtäter weiß denn heute, zu was sein Organismus eigentlich fähig ist? Ich weiß das schon ziemlich gut und möchte diese Kenntnis auch nicht missen.
- Und für mich am Wichtigsten: Aus Lust am Leben! Ich kenne keine Situation, in der man so eine starke Selbstwahrnehmung entwickelt wie bei einem späten Rennabschnitt eines Ultratrails. Lizzy Hawker – eine der besten Trailläuferinnen – bringt es in ihrem Buch auf den Punkt: Es gibt nur noch das Jetzt, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Soll heißen, die Wahrnehmung und die Gedanken fokussieren auf die aktuelle Situation, in der man sich befindet, da die Bewältigung dieser für den Körper essenziell ist. Ich kenne einen solchen Gemütszustand sonst nicht, da ich rastlos bin und meine Gedanken immer kreisen. Ich finde dieses Erleben, dieses fokussieren auf den Moment, daher extrem bereichernd und möchte auch diese Kenntnis nicht missen.
Jetzt heißt es diese Woche noch regenerieren und dann schnell wieder das Training aufzunehmen, um für die Langstrecke des L’Echappee Belle fit zu werden!