Vor vielen Jahren hatten ein Freund und ich einen Gutschein für einen Tandemsprung mit dem Fallschirm geschenkt bekommen. Irgendwie waren wir nie energisch genug in die Terminsuche gegangen, und so zogen die Jahre ins Land und von dem Gutschein blieb nur die Erinnerung, dass wir ja eigentlich mal springen wollten – und ein unerledigter Eintrag in der Bucket-List.
Bei einem Mittagessen in der Kantine kam vor einigen Monaten das Thema Tandemsprung auf, und plötzlich war die Idee aus einem Flugzeug zu springen, in meinem Kopf wieder präsent. Als meine Frau mit den Kindern in den Osterferien in Unterschleißheim war und wir überlegten, was man denn so machen könnte, rief ich unterwegs zum Bäcker spontan bei einem Fallschirmsportzentrum meines Vertrauens an und erkundigte mich, ob am Nachmittag noch Sprungtermine frei wären. Und einige Stunden später haben sich meine Tochter und ich – jeweils vor den Bauch eines Tandemmasters gespannt – in Leutkirch aus einer Chessna Supervan gestürzt.
Der rund 50 Sekunden dauernde Freifall aus 4.000 Metern Höhe war das abgefahrenste Gefühl, dass ich bis dato erlebt hatte. Nachdem ich nach der Schirmfahrt sicher wieder am Boden abgesetzt worden war, stand für mich fest: Ich muss einen Kurs machen…
Gesagt, getan. In den nächsten Wochen kümmerte ich mich um das Tauglichkeitszeugnis für einen Fallschirmkurs. Das gestaltete sich schwieriger als gedacht, da Tauglichkeitsuntersuchungen für Tauchen wohl üblicher sind. Den Dialog am Telefon möchte ich euch nicht vorenthalten:
Ich: „Ich würde gerne einen Tauglichkeitstest für Fallschirmspringen machen.“
Sprechstundenhilfe: „Für Tauchen?“
Ich: „Nein, für Fallschirmspringen.“
[kurze Pause]
Sprechstundenhilfe: „Wollen Sie von einem Boot springen?“
Ich: ??!?!
[kurze Pause]
Ich: „Nein, aus einem Flugzeug.“
Nach bestandener Untersuchung meldete ich mich in einem für mich besser gelegenen Fallschirmsportzentrum in Thalmässing, wenige Kilometer von unserem Zentrallager in Hilpoltstein entfernt gelegen, zu einem AFF-Kurs bei den Skydive Colibris an. AFF steht für Accelerated Free Fall, also eine beschleunigte Freifallausbildung, in der man bereits nach bestandenen sieben Leveln erstmals ohne Lehrer springen darf.
Die Wartezeit bis zum Kursbeginn nutzte ich dazu, einen 30 minütigen Kurs im Windtunnel Neufahrn zu absolvieren, um die Freifallhaltung nicht erst beim Sprung aus dem Flugzeug lernen zu müssen. Jedem Fallschirmschüler kann ich den Windtunnel nur wärmstens an Herz legen.
Knapp fünf Wochen nach meinem Tandemsprung fuhr ich also an einem Montagmorgen Anfang Mai erstmals – und mit einem ordentlichen Kribbeln im Bauch – zum Flugplatz Waizenhofen.
Gemeinsam mit drei Gleichgesinnten lauschte ich am ersten Tag gespannt unserem Fallschirmlehrer Chris, der uns in der Groundschool die wesentliche Theorie vom Fallschirmsport näher brachte. Freifall, Schirmfahrt, Landung, Öffnungsstörungen, Reserveaktivierung, Öffnungsautomaten… Nachmittags wurden dann erstmals Freifallhaltung, das Programm für den ersten Sprung sowie Übungen im Hänger (einem einfachen Simulator für die Schirmfahrt) absolviert. Und mindestens 100 Mal wurde das Notprozedere zur Abtrennung der Hauptkappe und Aktivierung der Reserve praktiziert.
Um die ganze Theorie ein wenig zu festigen, bekamen wir Schüler jeweils einen Test mit nach Hause, den es abends noch zu bearbeiten galt. Mir kreiste der Kopf. Am nächsten Tag würde ich erstmals auf eigene Faust (wenn auch mit zwei Lehrern) aus einem funktionsfähigen Flugzeug springen. So schlecht wie in dieser Nacht habe ich noch nie in meinem Leben geschlafen. Entweder mir schwirrte das Notprozedere im Kopf herum: Höhenkontrolle – Schauen, Greifen, Ziehen (=Abtrennen Hauptkappe) – Schauen, Greifen, Ziehen (=Aktivierung Reserve) – Höhenkontrolle. Oder aber mir kam wieder das Programm in den Kopf, das ich beim ersten Sprung abspulen sollte.
Nachdem wir am nächsten Morgen unzählige Male Notprozedere, unser Freifallprogramm und weitere Hängerübungen durchlaufen hatten, wurden wir mit Höhenmesser, Helm, Sprungkombi, Funkgerät und Brille ausgerüstet, um dann auf der Landewiese die ernüchternde Nachricht zu bekommen: Zu viel Wind. Blauer Himmel, aber zu viel Wind für AFF-Schüler. Es kam wie es kommen musste, der Wind blies den ganzen Tag und wir durften nicht springen. Selbes Spiel am Mittwoch morgen: Zu viel Wind. Aber am Mittag war es dann endlich so weit, und wir konnten uns sprungbereit machen. Noch einmal wurde das Sprungprogramm durchgegangen, und dann nahmen mich meine beiden AFF-Lehrer Wiggerl und Neil mit – Abmarsch Richtung Flugzeug.
Selten war ich in meinem Leben ähnlich angespannt wie vor meinem ersten Fallschirmsprung. Wie würde ich den Sensory Overload verkraften, den die meisten Menschen in den ersten Sekunden nach dem Herausspringen haben? Würde ich mein Freifallprogramm absolvieren können? Würde ich die Schirmfahrt auf die Reihe bekommen und auch gescheit auf der Landewiese ankommen? Würde ich landen oder eine Furche in die Wiese ziehen?! Trotzdem trottete ich brav zur Pilatus Porter, unserem Absetzflugzeug, und platzierte mich zwischen meinen beiden Lehrern. Während des Flugs musste ich Wiggerl noch einmal das Freifallprogramm erläutern und hatte anschließend noch einmal Zeit, in mich zu gehen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Schließlich rief der Pilot „Zwei Minuten!“. Wir brachten uns in Position, ich überprüfte nochmals meinen Fallschirm und wartete. Die Motordrehzahl wurde angepasst, das Flugzeug war nicht mehr im Steigflug und von vorne kam „Exit!“. Neil öffnete die Tür und kalter Wind traf mich ins Gesicht. Schlucken. Tief durchatmen. Ich hatte es nicht anders gewollt. Nachdem Wiggerl sich außen in Position gebracht hatte, platzierte ich mich in der vereinbarten Haltung zwischen ihm und Neil, der innerhalb der Flugzeugs Position eingenommen hatte. Start meines Programms: Check-In? Ok. Check-Out? Ok. Beide Fallschirmlehrer waren bereit. Propeller, rauf, runter, raus. Zwischen Wiggerl und Neil befand ich mich im freien Fall.
Abgefahren. Wie geil sich das wieder anfühlte. Aber: Ich hatte ja ein Programm. Nachdem ich die Freifallhaltung stabilisiert hatte, kontrollierte ich meine Höhe. 3.800 Meter. Durchgabe an Neil, Durchgabe an Wiggerl. Anschließend drei Scheingriffe. Also so tun als wenn man den Fallschirm auslöst. Hatte ich einen Bammel gehabt, dass ich das Hand-Deploy wirklich rausziehe, statt nur so zu tun. Aber ich funktionierte einfach und mein Gehirn arbeitete, trotz der obskuren Situation, in der ich mich befand. Wieder Höhenkontrolle. Und Wiederholung des Programms. Schließlich war die 2000 Meter Marke erreicht. Mit einem Kopfschütteln gab ich meinen Lehrern „No more“ zu verstehen. Also: Kein Freifallprogramm mehr.
Mein Blick war auf den Höhenmesser gerichtet: 1900… 1800… 1700… Abwinken. Drücken. Greifen. Ziehen.
Ich spürte einen Ruck, und es fühlte sich an als ob ich nach oben gezogen würde. 1000. 2000. 3000. 4000. Jetzt nach oben schauen: Fallschirm geöffnet. Kappenkontrolle? Alles gut. Luftraumkontrolle? Niemand vor mir. Höhenkontrolle? 1.300 Meter. Wow! Ich hing alleine am Fallschirm. Als nächstes folgten Steuer- und Flareprobe. Alles gut. Wo war ich eigentlich? Ah, da unten war das Freibad und in der Flucht davon hinter dem Wald, der Flugplatz. Dann musste doch da die Landewiese sein? Perfekt. Wie vorher trainiert, steuerte ich mit dem Schirm in deren Richtung. Wie geil! Stärkeres ziehen, stärkere Kurve, mehr Höhenverlust. Neben meinem Ohr knackte es. „Hallo Sebastian! Geiler Sprung! Wenn du mich hören kannst, dann mach jetzt mal eine Linkskurve.“ Neil hatte sich per Funk von der Landewiese gemeldet. Mit Erreichen der 400 Meter Marke fing ich an, mein Landepattern für den Landeanflug abzuspulen. Neil gab mir einige Hinweise und ich steuerte den Schirm zur Landewiese. Die halbe Bremse zog ich allerdings zu früh und hatte daher nicht die volle Bremswirkung bei der Landung. Etwas hart kam ich auf und fiel mit einem unsauberen Landefall ins Gras. Aua. Fuß leicht verstaucht. Aber total glücklich! Immer noch total rappelig sammelte ich meinen Fallschirm auf und machte mich auf den Weg Richtung Bus. Auf dem Weg dorthin warteten Neil und Wiggerl bereits und beglückwünschten mich zu einem super ersten Sprung. Gemeinsam mit den anderen Springern quetschten wir uns mit den Fallschirmen in den Bulli und fuhren zurück zum Flugplatz. Das Fallschirmpacken überließ ich dem Packer. Wiggerl nahm mich mit zum Debriefing und wir schauten uns gemeinsam die Videos meines Sprungs an, die Neil und er von mir gemacht hatten. Cool. Perfekter AFF-Level 1 Sprung. Level bestanden.
Da der Wind wieder zu stark war, konnten wir die Sprünge erst am Folgetag fortsetzen. Bis Sonntag hatte ich alle AFF-Sprünge absolviert und im ersten Versuch bestanden.
Sonntag Nachmittag folgte bereits mein erster Solo-Sprung und ich durfte mich alleine aus dem Flugzeug stürzen. Wahnsinn… Mein erster Solo-Sprung hatte nur eine Aufgabe: Fallen lassen und genießen. Genial. Wie lange einem 50 Sekunden vorkommen, wenn man kein Programm abspulen muss.
Abhängig von meiner knappen Freizeit fuhr ich anschließend mehr oder weniger regelmäßig an den folgenden Wochenenden zum Flugplatz, um die 25 Sprünge voll zu bekommen, die man für die Fallschirmlizenz braucht. Neben fünf „1by1“ Sprüngen, in der man Übungen mit einem Fallschirmlehrer in der Luft macht, sind auch drei höhenreduzierte Sprünge, bis auf 1.200 Meter hinunter, erforderlich. „Hopp-and-Popp“ werden diese zu Recht genannt und dienen Not-Exits, für den Fall, dass es Probleme mit der Absetzmaschine geben sollte.
Am 12.07. war es dann soweit und ich konnte meine beiden Prüfungssprünge absolvieren. Nachdem ich die 100 Theoriefragen beantwortet hatte, schaffte ich mit dem 25. Sprung meine Fallschirmlizenz!
Während der Ausbildung war ich während des Steigflugs oft noch sehr angespannt. Mittlerweile hat das deutlich nachgelassen und die Freude auf den anstehenden Sprung überwiegt.
Was für ein irres Hobby. ☺ Ich freue mich auf viele weitere Sprünge bei den Skydive Colibris und sage meinen Lehrern Wiggerl, Neil und Chris „Danke!“ für einen echt abgefahrenen Sommer 2018.
Einen Tandemsprung kann ich jedem nur empfehlen – das sollte man einmal in seinem Leben gemacht haben. Warum? Schwer zu erklären, denn: To those who jump, no explanation is necessary, to those who don’t jump, no explanation is possible…
Und merke: Only skydivers know, why the birds sing. (They don’t need to pack a parachute… ☺)
Übrigens: Am Anfang verzweifelt man, wenn man versucht, einen Fallschirm zu packen. Wie soll man das Chaos sortieren? Wie soll man den flutschigen Fallschirm in den augenscheinlich viel zu kleinen POD bekommen? Aber auch hier gilt: Übung macht den Meister… Und während man übt, gibt es verschiedene Kontrollpunkte, an denen immer ein Fallschirmlehrer prüft, ob man auch richtig packt.